Geschichte


Korax und Teisias

Die dokumentierte Geschichte der Rhetorik, so scheint es zumindest Konsens, nimmt ihren Anfang im fünften Jahrhundert nach Christus mit einem berühmten Duo: dem Rhetoriklehrer Korax (Κόραξ) und seinem Schüler Teisias (Τεισιας)[1], der (später) ebenfalls Rhetoriklehrer war. Sie gelten als die Begründer der Rhetorik, was freilich aber nur im Hinblick auf deren Verschriftlichung und Transformation zu einem Lehrstoff Sinn ergibt[2].

Beide lebten auf Sizilien, das damals noch griechisch besiedelt war.

 

Im Nachgang eines Tyrannensturzes dort kam es zu zahlreichen Prozessen, in deren Verlauf sich beide als Gerichtsredenschreiber gegen Bezahlung verdingten. Die ersten „Handbücher“ der Rhetorik, die aus einer Sammlung von Musterreden bestanden, verfassten diese beiden Praktiker[3] und hoben damit die Rhetorik damit in der öffentlichen Perzeption in den „Adelsstand“ eines Lehrfaches.

 

Korax schrieb, so jedenfalls laut den Nachweisen hoher Herren wie Aristoteles und Cicero, als erster ein fünfgliedriges Redeschema nieder.

Teisias gründete, wie sein Lehrer vor ihm, später mehrere Rhetorikschulen. Zu deren späteren Schülern gehörten Lysias und auch Isokrates, der Teisias wohl noch persönlich erlebt hat.

 

Am Bekanntesten dürften Korax und Teisias aber wegen ihres Rechtstreites um das geschuldete Lehrgeld sein:

 

Überliefert wird, dass Teisias Korax als berühmten Rhetoriklehrer und Gerichtsredner aufsuchte und ihn bat, ihn in der Kunst der Gerichtsrede zu unterweisen. Weil er das Geld nicht hatte, versprach Teisias, Korax seinen Lohn nach dem Gewinnen seinen ersten Rechtsstreites zukommen zu lasse, worauf der alte Lehrer sich einließ. Nachdem nun Korax dem jungen Ungestüm all sein Wissen vermittelt hatte, waren so viele Jahre vergangen, dass er sich berechtigt sah, sein Geld zu fordern.

 

Der Streit entbrannte zum Prozess, in dessen Verlauf Korax ganz entspannt vorbrachte, in jedem Fall sein Geld zu bekommen: Wenn er den Prozess gewönne, weil dies ihm dann von Rechts wegen zustehe, wenn er aber den Prozess verlöre, weil Teisias dann seinen ersten Prozess gewonnen hätte und ihm daher kraft ihrer Vereinbarung das Honorar schuldete.

 

Teisias war mindestens genauso siegessicher: Er argumentierte, er müsse in keinem Falle zahlen: Wenn er gewönne, dann schon allein deswegen nicht, wenn er aber verlöre, dann weil er keinen Prozess gewonnen hätte und damit die Bedingung, unter der er zahlen wollte, nicht eingetreten sei.

 

Beides erschien dem Richter plausibel und er stand vor einem Dilemma, das er angeblich dadurch löste, dass er beide zum Teufel jagte.                                 lj.

 



[1] Zum Ganzen Katharina Gräfin von Schlieffen, Vorwort der Herausgeberin der Reihe, in: dies. (Hrsg.), Recht und Rhetorik Bd. 1: Ottmar Ballweg, Analytische Rhetorik. Rhetorik, Recht und Philosophie, Frankfurt am, Main 2009, S. V m. w. N.

[2] S. dazu Robling, Redner, Rednerideal, in: Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 7 (Pos—Rhet), Tübingen 2005, Sp. 862 [866].

[3] Marcus Tullius Cicero, Brutus, 46: „Itaque, ait Aristoteles, cum sublatis in Sicilia tyrannis res privatae longo intervallo iudiciis repeterentur, tum primum, […], artem et praecepta Siculos Coracem et Tisiam conscripsisse…[…].”

 

Cicero

  „Sapientam sine eloquentia parum prodesse civitatibus,

eloquentiam vero sine sapientia nimium obesse plerumque,

prodesse numquam.“[1]

 

Marcus Tullius Cicero gilt – neben Quintilian – als bedeutendster Rhetoriker des Römischen Reiches. Er wurde im Jahr 106 v. Chr. in Arpinum bei Rom geboren. Sein Vater, der dem Stand der Ritter (equester ordo) angehörte, ließ ihn als Redner und Anwalt ausbilden. Obwohl Cicero keiner senatorischen Familie entstammte, konnte er als Gerichtsredner nun die üblicherweise den Patriziern vorbehaltene Ämterlaufbahn einschlagen. Insofern ist Ciceros Name nicht nur über seine Inhalte mit der Rhetorik verbunden, auch die Bedeutung der karrierefördernden Funktion der rhetorischen Ausbildung[2] für den cursus honorum in der Römischen Republik steht exemplarisch für das Ideal des „vorbildlichen Redners“. Der Stil Ciceros und seine Verehrung durch die Nachwelt haben in der Rhetoriklehre den Begriff des Ciceronianismus (link) geprägt.

 

Leben und Laufbahn

Bereits während seiner Quästur in Sizilien im Jahre 75 v. Chr. verdiente er sich durch seine Anklage gegen Verres den Ruf eines erfolgreichen Redners. Denn Cicero gewann diesen Prozess, obwohl sein Gegenspieler kein geringerer war als der etablierte und viel gerühmte Gerichtsredner Hortensius. Im Jahr 69 wurde Cicero kurulischer Ädil, im Jahr 66 schließlich Prätor. Als Konsul bekämpfte Cicero im Jahr 63 v. Chr. die Verschwörung des Catilina und betrachtete sich fortan als „Retter der Republik“. Die in diesem Zusammenhang entstandenen vier „Reden gegen Catalina“ gelten insbesondere wegen ihres fulminanten Beginns in Form immer schärfer zugespitzter rhetorischer Fragen als rednerische Meisterleistung und sind bis heute Standardlektüre im Lateinunterricht. Der Senat ehrte ihn mit dem Titel pater patriae (Vater des Vaterlandes). Cicero hatte den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreicht.

 

Doch der Notstandsbeschluss, der die Konsuln des Jahres zur Rettung des Staates ermächtigt und damit die Hinrichtung der Catilinarier legalisiert hatte, blieb umstritten. Mit dem „Ersten Triumvirat“ zwischen Caesar, Crassus und Pompeius ab 60 v. Chr. schwand Ciceros Einfluss in Staat und Senat. Seine politischen Gegner machten ihn nachträglich für die Tötung der Catilinarier ohne vorherige Gerichtsverhandlung verantwortlich und konnten für die Jahre 58 und 57 seine Verbannung nach Makedonien durchsetzen. Im Jahr 57 kehrte Cicero zurück und wirkte nun vornehmlich als Schriftsteller. In dieser Zeit entstanden Arbeiten zur Redekunst, zur Staatslehre und zu den Gesetzen. Auch das für die Rhetoriklehre bedeutsame Werk „De Oratore“ wird auf diesen Zeitraum datiert. Sein politisches Leitmotiv lautete nun „consensus bonorum omnium“, vom „Konsens aller Guten“. Cicero wollte das „freie Gemeinwesen“ (libera res publica) erhalten und verbessern.

 

Im Jahr 51 wurde Cicero zum Statthalter von Kilikien (in der heutigen Südosttürkei) bestellt. Bei seiner Rückkehr ein Jahr später war Rom bereits vom drohenden Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius gezeichnet. Cicero schloss sich Pompeius an und folgte ihm nach Griechenland. Nach der endgültigen Niederlage des Pompeius bei Pharsalos begnadigte Caesar nicht nur Cicero, sondern auch seinen erbitterten Gegner Marcus Claudius Marcellus. Cicero honorierte diese Geste Caesars, die das Ideal des „weisen Staatsmannes“[3] zu verkörpern schien, mit der Dankesrede „Pro Marcello“. Als Caesar seine Macht immer weiter ausbaute, sah Cicero allerdings das freie Gemeinwesen gefährdet und rückte endgültig von ihm ab. Während der Alleinherrschaft Caesars von 47 bis zum 15. März 44 verfasste er neben einigen Büchern zur Rhetorik auch solche mit philosophischem Inhalt, darunter die berühmte Schrift „De officiis“, in der er Caesar als Tyrannen und als „wildes Tier“ bezeichnete. An dem Komplott zur Ermordung Caesars war Cicero weder beteiligt noch war er in die genauen Pläne eingeweiht. Allerdings rühmte er die Tat und ließ sich zu ihrem Erfolg beglückwünschen. Als nach Caesars Tod Marcus Antonius und Octavian (der spätere Kaiser Augustus) um die Vorherrschaft kämpften, schrieb Cicero vierzehn scharfzüngige Reden („Philippische Reden“) gegen Antonius und für die Wiederherstellung der Republik. Die vorrübergehende Aussöhnung zwischen Marcus Antonius und Octavian während ihres Bündnisses mit Lepidus (dem sog. „Zweiten Triumvirat“ 43 v. Chr.) hatte schließlich zur Folge, dass auch Ciceros Name zur proscriptio freigegeben wurde. Damit war jedermann seine Ermordung erlaubt, der Besitz der Geächteten wurde vom Staat beschlagnahmt. Am 7. Dezember 43 wurde Cicero bei Formiae auf der Flucht von Gefolgsleuten des Antonius getötet.

 

Wirken und Werk

Ciceros Werk hat nachfolgende Generationen so stark beeinflusst, dass innerhalb der Sprachwissenschaft der Begriff „Ciceronianismus“ geprägt wurde. Gemeint ist damit die angestrebte sprachliche Eleganz („goldene Latinität“) und ihre Verbindung mit der „idealen Rednerpersönlichkeit“, wobei freilich umstritten ist, ob Ciceros Werk selbst eher den Redner als sittliches Vorbild oder die Redetechnik zum Hauptgegenstand erhoben hat. Die eigentliche Grundlage für das literarische Ideal des Ciceronianismus bildet jedenfalls die enge Verbindung von sapientia und eloquentia. Demnach sollten „Worte“ und „Sache“ nicht in einem Subordinationsverhältnis zueinander, sondern ausgewogen nebeneinander stehen. Cicero formulierte zudem die Überzeugung, dass es von zentraler Bedeutung sei, Argumente und Darbietung dem Adressatenkreis und der Redesituation anzupassen.

 

Schriften  Zu seinen bekanntesten „philosophischen“, teilweise nach heutigem Verständnis eher „politisch“ zu nennenden Schriften zählen:

- De re publica (Über den Staat), entstanden 51-54 v. Chr. und nur fragmentarisch erhalten.

- De legibus (Über die Gesetze), entstanden wahrscheinlich gegen Ende der 50er Jahre v. Chr., enthält die praktische Anwendung der Staatslehre, vergleichbar mit Platons „nomoi“.

- De finibus bonorum et malorum (Über das höchste Gut und das größte Übel), entstanden im Juni 45 v. Chr. und Brutus gewidmet.

- De officiis (Über die Pflichten), entstanden im Winter des Jahres 44 v. Chr. und in Briefform an seinen Sohn Marcus gerichtet.

 

Wichtige rhetorische Schriften:

- De inventione (Über die Auffindung des Redestoffes), zwischen 85 und 80 v. Chr. entstanden und später von Cicero selbst wegen seiner tiefer greifenden Darstellung in De oratore verworfen

- De oratore (Über den Redner), das 55 v. Chr. entstandene rhetoriktheoretische Hauptwerk.

- Brutus, entstanden 46 v. Chr., eine Geschichte der römischen Redekunst bis zu Cicero selbst, der selbstbewusst unter seinen Namen einen (vorläufigen) Schlussstrich zieht.

- Orator (Der Redner), entstanden im Sommer des Jahres 46 v. Chr. und nicht inhaltsgleich mit dem berühmten „De oratore“. In „orator“ entwirft Cicero das Idealbild des vollkommenen Redners. Adressat ist wiederum Brutus. Doch auch Phasen der Redevorbereitung und rhetorische Figuren werden hier dargestellt.

- Topica (Topik, Beweislehre), entstanden Juli 44 v. Chr.

lj 

[1] „Weisheit ohne Beredsamkeit vermag zu wenig für das Wohl der Staaten; Beredsamkeit aber ohne Weisheit ist meist überaus schädlich und nützt niemals“, Cicero, De inv. I, 1.

[2] Babusiaux, Römische Rechtsrhetorik, in: Handbuch Juristische Rhetorik, Ueding/Kalivoda/v. Schlieffen (Hg.), im Erscheinen.

[3] Aus den Reden gegen Catilina (orationes in Catilinam).